In Verbindung mit der Output-Orientierung ist Kompetenz heute integraler Bestandteil bildungspolitischer Programme auf nationaler und internationaler Ebene. In den Kompetenzdiskursen von Schulen, Hochschulen, beruflicher und sportlicher Bildung trifft man auf unterschiedliche Kompetenzbegriffe, was u.a. an den verschiedenen Wurzeln aus Sprachwissenschaft, Pädagogik und Psychologie liegt.
Immerhin findet sich in fast allen Definitionen der Konsens, dass man Kompetenzen erlernen kann, dass es sich um Dispositionen (→ Leistungsvoraussetzungen) für das Lösen von Problemen handelt und dass neben kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten motivationale und soziale Bereitschaften gefordert sind. Die digitalen Medien fungieren in diesem Zusammenhang als „Werkzeuge“, die zusammen mit didaktischen Überlegungen Lehr-Lern-Szenarien bilden, mit denen man fachliche und überfachliche Kompetenzen fördern kann.
Die didaktischen Potenziale von Video Learning
Seit den 1970 Jahren wird nicht nur in der Lehrer:innenbildung, sondern auch im Bereich der Trainerausbildung im Sport auf das Medium Video gesetzt. Der Schweizer Bildungsforscher Kurt Reusser fasst die didaktischen Potenziale des Videoeinsatzes mit den Stichworten „Situierung“, „Perspektivenwechsel“, „Selbstreflexion“ und „Diskussion innerhalb der Kleingruppe“ zusammen. Dabei hat er drei Einsatzszenarien von Video im Blick:
- In videobasierten Trainings werden Unterrichtsvideos als Illustration erfolgreichen Lehrerhandelns verwendet. Angestrebt wird ein Lernen am Modell in Anlehnung an die sozial-kognitive Lerntheorie von Bandura.
- In fallbasierten Lernumgebungen werden Unterrichtsvideos mit dem Ziel eingesetzt, diese allein oder in Gruppen unter verschiedenen Perspektiven und Fragestellungen zu bearbeiten. Hier kommen vor allem problemorientierte Ansätze und Methoden zum Tragen.
- In Lernumgebungen, die eigene Unterrichtsvideos in den Mittelpunkt des Interesses stellen, wird speziell die videogestützte Reflexion angeregt: Eigenes Unterrichtshandeln wird videografiert und kann im Nachhinein – gewissermaßen aus einer Außenperspektive und dennoch situiert – bewusst wahrgenommen, analysiert und aktiv bearbeitet werden.
Wie sieht ein Blended-Learning-Lehrgang aus?
Seit ca. Mitte 2000 sind die Möglichkeiten durch den Einsatz des Internets, spezieller Software und geeigneter didaktischer Methoden deutlich angewachsen: Videos lassen sich z.B. durch die Teilnehmer eines Blended-Learning-Lehrgangs online abrufen und interaktiv durch Videoannotation bearbeiten. Was heißt das genau und was hat das mit Kompetenzförderung zu tun?
- Stelle dir dazu einen Blended-Learning-Lehrgang auf der C-Stufe einer bestimmten Sportart vor. In einer ersten Online-Phase erhalten die Teilnehmenden (Tn) die Aufgabe, Videos aus ihrer eigenen Lehrpraxis mit dem Handy aufzunehmen und in eine Online-Umgebung zu laden. Zudem besteht die Aufgabe, diejenigen Lehrsituationen mit einem situationsgenauen Videokommentar kenntlich zu machen, die der Tn selbst für verbesserungswürdig einstuft. Noch vor der Präsenz sichtet der Referent alle Beiträge der Tn und isoliert drei aus seiner Sicht bedeutsame und exemplarische „Lehrfehler“.
- In der Präsenzsitzung konzentrieren sich die Tn im Rahmen der Eigenrealisation genau auf diese drei Lehrfehler und erhalten vom Referenten unmittelbares Feedback zur Verbesserung; Eigenrealisation, Feedback und praktische Umsetzung des Feedbacks werden per Video eingefangen und erneut auf den Online-Campus geladen.
- In einer zweiten Online-Phase erhalten die Tn die Aufgabe, die Veränderungen zwischen der Performanz aus der ersten Online-Phase und der aus der Präsenz-Phase durch Videokommentar herauszuarbeiten. Das machen sie aber nicht mehr alleine, sondern in einem Tandem: Tandempartner A kommentiert die Verbesserungen bei Tandempartner B und umgekehrt (→ Social Video Learning).
Die eigene Lehr-Performanz im Zentrum
Warum werden in diesem Szenario Handlungskompetenzen gefördert? Zunächst setzt das Szenario nicht an irgendwelchen Lehrsituationen an, sondern rückt die eigene Lehr-Performanz ins Zentrum. Das führt in der Regel dazu, dass die Tn im hohen Maße emotional-motivational aktiviert sind. Durch die Selbstreflexion und Artikulation der eigenen Schwachstellen und gelungenen Situationen durch Videokommentar fördert man die kognitiv-begriffliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Lehrhandeln schon vor der Präsenzsitzung. Im Rahmen der Präsenz steht die Eigenrealisation im Zentrum, also ein leiblich-situiertes Lernen am eigenen Fall, was in Verbindung mit dem „vor-Ort“-Feedback tiefe Lernprozesse auslöst. Die zweite Online-Phase ist dem reflexiv-sozialen Lernen vorenthalten: Durch die teambasierte Auseinandersetzung mit dem Videomaterial aus der Praxisphase wird die Eigenbeobachtung um eine Fremdperspektive erweitert, was nicht nur unter motivationalen Gesichtspunkten günstig ist, sondern auch ein soziales Aushandeln von „guter Lehre“ einfordert.
Selbstverständlich ist das skizzierte Szenario aufwendig, sowohl für die Lernenden als auch für die Lehrenden. In der Bilanz sollte man aber auch berücksichtigen, dass dadurch tiefe Lernprozesse ermöglicht werden, die den Namen „Handlungskompetenz“ verdienen, da Fach-, Sozial- und Selbstkompetenz so kombiniert werden, das ein besseres Lehrhandeln realisiert wird!
Quellen
- Krammer, H. & Hugener, I. (2005). Netzbasierte Reflexion von Unterrichtsvideos in der Ausbildung von Lehrpersonen – eine Explorationsstudie. Beiträge zur Lehrerbildung, 23 (1), 51-61.
- Reusser, K. (2005). Situiertes Lernen mit Unterrichtsvideos. Unterrichtsvideografie als Medium des situierten beruflichen Lernens. Journal für Lehrerinnen- und Lehrerbildung, 5(2), 8-18.
- Reinmann, G. & Vohle, F. (2009). Digitale Medien in der Fahrausbildung: Einstieg in ein neues Forschungsfeld zum situierten Lernen Digital media in driver education: Introduction in a new research field of situated learning.
- Vohle, F. & Reinmann, G. (2014). Social video learning and social change in German sports trainer education. International Journal of Excellence in Education, 6 (2), 1-11.
- Vohle, F. & Reinmann, G. (2012). Förderung professioneller Unterrichtskompetenz mit digitalen Medien: Lehren lernen durch Videoannotation. In R. Schulz-Zander, B. Eickelmann, P. Grell, H. Moser & H. Niesyto (Hrsg.), Jahrbuch Medienpädagogik 9. Qualitätsentwicklung in der Schule und medienpädagogische Professionalisierung (S. 413-430). Wiesbaden: Springer.